Referentenentwurf des Bundesministeriums des Innern und für Heimat für ein Gesetz zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts
(Stand: 27. Mai 2022, 11.53 Uhr)
Der Bund Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen (BDVR) bedankt sich für die Gelegenheit, zu dem Referentenentwurf für ein Gesetz zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts aus fachlicher Sicht Stellung zu nehmen.
A.
Art. 1 Nr. 3 Buchst. b (zu § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG-E)
Die Heraufsetzung des Lebensjahres, bis zu dessen Vollendung der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu stellen ist, von 21 auf 27 Jahre steht in einem Spannungsverhältnis zu dem in der Überschrift bezeichneten begünstigten Personenkreis. § 25a Abs. 1 Nr. 3 AufenthG lag die Zielsetzung zugrunde, nur gut integrierte Jugendliche und Heranwachsende, nicht jedoch jeden jüngeren Ausländer zu begünstigen, der sich längere Zeit im Bundesgebiet aufhält und die Integrationsvoraussetzungen erfüllt. Durch die Heraufsetzung des betreffenden Lebensalters wird auch solchen Ausländern, die einen Schul- oder Berufsabschluss erst als Volljährige realisieren, ermöglicht, einen Aufenthaltstitel zu erlangen. Infolge der Heraufsetzung des Lebensjahres wird die Aufenthaltserlaubnis nicht mehr allein einem jugendlichen (14-17 Jahre) oder heranwachsenden (18-21 Jahre), sondern entgegen dem Wortlaut des Einleitungssatzes künftig auch ehemals jugendlichen oder heranwachsenden Ausländern zu erteilen sein. Die Erweiterung des begünstigten Personenkreises bedingen eine Anpassung der Überschrift und des ersten Halbsatzes des § 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG wie auch der Bezeichnung der Personengruppe in § 25a Abs. 1 Satz 2 AufenthG.
B. Art. 1 Nr. 4 Buchst. b (zu § 25b Abs. 7 AufenthG-E)
Mit Blick auf die in Aussicht genommene Streichung von § 60b AufenthG könnte es sich zur Vermeidung einer zeitnah erforderlich werdenden Änderung des § 25b Abs. 7 AufenthG-E empfehlen, die Wörter „die in § 60b Absatz 5 Satz 1 genannten Zeiten anzurechnen“ durch die Wörter „diejenigen Zeiten anzurechnen, in denen der Ausländer eine Duldung mit dem Zusatz ‚für Personen mit ungeklärter Identität‘ ausgestellt worden ist“ zu ersetzen.
C. Art. 1 Nr. 9 (zu § 53 Abs. 3a AufenthG-E)
Die Neufassung des § 53 Abs. 3a AufenthG-E gründet auf der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Urteil vom 24. Juni 2015 – C-373/13, HT – Rn. 56 ff.). Art. 24 Abs. 1 RL 2011/95/EU rechtfertigt allerdings nicht die Zurückweisung eines Flüchtlings. Die Vorschrift betrifft Fallgestaltungen, in denen die Gefahr, die von einem Flüchtling für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung oder die Allgemeinheit eines Mitgliedstaats ausgeht, nicht den Verlust des Flüchtlingsstatus rechtfertigt. Art. 21 Abs. 1 RL 2011/95/EU statuiert den Grundsatz, dass Flüchtlinge normalerweise vor einer Zurückweisung geschützt sind. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz sieht Art. 21 Abs. 2 RL 2011/95/EU vor, der die Zurückweisung eines Flüchtlings – unabhängig davon, ob er als solcher förmlich anerkannt ist oder nicht – nur unter den in Buchst. a und b genannten Voraussetzungen gestattet. § 53 Abs. 3a AufenthG-E wird damit dem Ziel gerecht, den legalen Aufenthalt von Straftätern und Gefährdern zu beenden, verfolgt indes nicht unmittelbar das Ziel, auch deren Aufenthalt zu beenden.
D. Zu § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG
Der Referentenentwurf ist um eine redaktionelle Anpassung von § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG zu ergänzen. In dieser Norm ist die Angabe „Absatz 3“ durch die Angabe „Absatz 3a“ zu ersetzen.
E. Art. 1 Nr. 11 (zu § 104c AufenthG-E)
§ 104c Abs. 1 AufenthG-E wirft in den Fällen der mangelnden Klärung der Identität des Ausländers die Frage der Geltung der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG auf.
In § 104c Abs. 2 Satz 1 AufenthG-E sollte aus Gründen der Klarstellung das Wort „Begünstigten“ durch die Wörter „Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis“ ersetzt werden, um klarzustellen, dass die Erteilung nur erfolgt, wenn dem Begünstigten nach § 104c Abs. 1 AufenthG-E ein Chancen-Aufenthaltsrecht auch konkret erteilt wurde.
§ 104c Abs. 2 Satz 2 AufenthG-E sollte um die Wörter „und mit dem Ausländer in häuslicher Gemeinschaft lebt“ ergänzt werden, da sich diese der Entwurfsbegründung zu entnehmende Einschränkung im Wortlaut der Norm nicht unmissverständlich widerspiegelt. Der in § 104c Abs. 2 Satz 1 AufenthG-E enthaltene Relativsatz könnte anderenfalls als tatbestandliche Einschränkung allein der Personengruppe der minderjährigen Kinder des Ausländers ausgelegt werden.
In § 104c Abs. 3 Satz 1 AufenthG-E sollten das Wort „minderjähriges“ gestrichen, das Wort „andere“ durch das Wort „sämtliche“ und die Wörter „Mitglieder der Kernfamilie“ durch die Wörter „Personen im Sinne des Absatzes 1 und 2“ ersetzt werden, um deutlich zu machen, dass die Begehung entsprechender Straftaten durch eine Person zum grundsätzlichen Ausschluss des Chancen-Aufenthaltsrechts für sämtliche bezeichneten Personen und somit auch für volljährige gewordene Kinder führt, hinsichtlich derer sich anderenfalls die Frage stellen könnte, ob diese noch der Kernfamilie zuzurechnen sind.
§ 104c Abs. 3 Satz 2 AufenthG-E sollte gestrichen werden, da es auch zur Vermeidung einer besonderen Härte nicht angezeigt erscheint, den bezeichneten Personen ein Chancen-Aufenthaltsrecht zu gewähren, wenn dem stammberechtigten Ausländer ein solches nicht zusteht (vgl. insoweit auch überzeugend § 60d Abs. 1 Nr. 7 AufenthG).
F. Art. 4 Abs. 2
Hinsichtlich des Außerkrafttretens der Norm ist zu berücksichtigen, dass maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Voraussetzungen eines seitens der Ausländerbehörde versagten Chancen-Aufenthaltsrechts derjenige der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts ist.
Dr. Robert Seegmüller
(Vorsitzender)
Berlin, den 15. Juni 2022