Stellungnahme zu dem Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz für ein Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten (BT-Drs. 20/8095)

THEMA

Einsatz von Videokonferenztechnik

AUTOR

Dr. Robert Seegmüller
(Vorsitzender)

VERÖFFENTLICHT AM

16. Oktober 2023

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I. Zusammenfassende Bewertung des Gesetzentwurfes

Das Ziel des Gesetzentwurfs, den Einsatz von Videokonferenztechnik weiter zu fördern, ist grundsätzlich zu begrüßen. Es entspricht der weiter fortschreitenden Digitalisierung in allen Bereichen des Rechts. Allerdings engt der Entwurf die Gerichte bei der Entscheidung über den Einsatz von Videokonferenztechnik zu stark ein. Das beeinträchtigt die Fähigkeit der Gerichte, die Begegnung der Streitparteien im Einzelfall sachgerecht zu gestalten. Auf eine gesetzliche Einengung des gerichtlichen Ermessens beim Einsatz von Videokonferenztechnik sollte daher ebenso wie auf ausdrückliche Begründungspflichten für die Entscheidung über ihren Einsatz verzichtet werden. Zudem sollte die Anordnung von Videokonferenztechnik unter dem ausdrücklichen Vorbehalt des Vorhandenseins einer im Einzelfall ausreichenden technischen Ausstattung der Gerichte stehen.

II. Bewertung der wesentlichen Regelungen des Entwurfs

Art. 6 Nr. 12 – § 227 Abs. 1 Satz 3 ZPO-E
Der Entwurf sieht vor, dass von einer Terminänderung abzusehen ist, wenn der Termin als Videoverhandlung nach § 128a ZPO-E oder als Beweisaufnahme nach § 284 Abs. 2 ZPO-E durchgeführt werden kann und die erheblichen Gründe, die zu einer Aufhebung, Verlegung des Termins oder Vertagung der Verhandlung führen können, dadurch entfallen.
Die geplante Regelung bedarf der Präzisierung. Sie lässt bisher offen, ob die Möglichkeit der Durchführung einer Videoverhandlung im Sinne der Vorschrift schon dann anzunehmen ist, wenn keiner der Beteiligten die Durchführung einer Videoverhandlung ablehnt, oder ob solches nur anzunehmen ist, wenn das Verfahren sich nach Einschätzung des Gerichts auch für die Durchführung einer Videoverhandlung eignet. Der Entwurfstext sollte im Sinne der letztgenannten Alternative klargestellt werden.

Art. 11 Nr. 1 – § 81 Abs. 1 Satz 3 VwGO-E – Klageerhebung durch Bild- und Tonübertragung
Die Änderung ermöglicht die Schaffung virtueller Rechtsantragsstellen auch im Bereich der Verwaltungsgerichte. Auch dort soll sie dem effektiven Rechtsschutz dienen und die Gleichheit vor dem Gesetz begünstigen, indem sie einen niedrigschwelligen Zugang zur Justiz schafft und hilft, Zeit und Kosten zu sparen. Insbesondere soll solchen Rechtssuchenden erleichterter Zugang zur Justiz ermöglicht werden, die ohne Hilfestellung durch die Rechtsantragstelle nicht in der Lage sind, selbst sachgerechte Erklärungen zu formulieren, die sie bei Gericht einreichen können.
Die geplante Änderung erreicht das mit ihr verfolgte Ziel. Sie ermöglicht Rechtsuchenden einen niederschwelligeren Zugang zu verwaltungsgerichtlichem Rechtschutz als bisher, indem sie ihnen den mitunter beschwerlichen und kostenträchtigen Weg zum nächstgelegenen Gericht erspart. Vertretbar ist insoweit auch, keine konkreten Regelungen für die Identifikation des Antragstellers vorzusehen. Es obliegt dem jeweiligen Urkundsbeamten sich den notwendigen Grad an Gewissheit über die Identität des Antragstellers im Einzelfall zu verschaffen.
Regelungsbedürftig scheint aber sowohl der Modus, in dem der Rechtssuchende seinen Antrag – wie bisher verlangt – unterschreiben soll, als auch die Verfahrensweise nach der der Rechtssuchende seinem Antrag oder seiner Erklärung Dokumente beifügen kann. Die Vorschrift sieht Regelungen für beides bisher nicht vor. Im Verwaltungsprozess besteht insbesondere für das Beifügen von Unterlagen aber ein besonderes Bedürfnis. § 82 Abs. 1 Satz 3 VwGO verpflichtet den Kläger seiner Klage die angefochtene Verfügung und gegebenenfalls auch den Widerspruchsbescheid beizufügen. Wird die Klage zu Protokoll beim Urkundsbeamten der Geschäftsstelle nach § 81 Abs. 1 Satz 2 VwGO erhoben, werden diese Dokumente dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bisher bei dieser Gelegenheit vom Kläger überreicht. Das ist bei einer Klageerhebung zu Protokoll durch Bild- und Tonübertragung nicht möglich. § 82 Abs. 1 Satz 3 VwGO-E ist daher jedenfalls um einen weiteren Satz zur Beifügung von Anlagen zu ergänzen:
Wird ein Antrag zu Protokoll durch Bild- und Tonübertragung gestellt, ist dem Antragsteller die Gelegenheit zu geben, dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle, der seine Erklärung aufnimmt, elektronische Dokumente in einem durch Rechtsverordnung festzulegenden Format zu übermitteln.

Art. 11 Nr. 2 – § 82 Abs. 1 Satz 4 VwGO-E – Äußerung zur Durchführung einer Videoverhandlung
Die geplante Regelung soll dem Gericht die erforderlichen Informationen vermitteln, um den Ablauf der mündlichen Verhandlung zu planen.
Es ist sachgerecht, keine Begründung der Ablehnung einer Videoverhandlung zu verlangen, da auch der Einspruch gegen die Anordnung einer Videoverhandlung nicht begründet werden muss und ohne Weiteres zur Aufhebung einer entsprechenden Anordnung führt. Um unnötigen Verwaltungsaufwand zu reduzieren, könnte die Vorschrift im Übrigen verlangen, mitzuteilen, wohin der Einladungslink im Falle der Durchführung einer Videoverhandlung übermittelt werden soll.

Art. 11 Nr. 5 – § 95 Abs. 1 Satz 2 VwGO-E – persönliches Erscheinen als Teilnahme an einer Videoverhandlung
Die geplante Vorschrift soll klarstellen, dass persönliches Erscheinen einer Partei auch in der Form einer Teilnahme an einer Videoverhandlung in entsprechender Anwendung des § 128a ZPO angeordnet werden kann.
Sie ist im Hinblick auf die übrigen geplanten Änderungen zur Erleichterung der Durchführung von Videoverhandlungen sachgerecht. Das durch Verweisung auf § 128a ZPO gewährleistete Einspruchsrecht gegen eine Anordnung des Gerichts an der mündlichen Verhandlung als Videoverhandlung teilzunehmen, stellt sicher, dass der von der Anordnung betroffenen Partei nicht gegen ihren Willen durch Anordnung der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung in der Form der Videoverhandlung eine persönliche Teilnahme an der mündlichen Verhandlung verwehrt werden kann.

Art. 11 Nr. 6 – § 98 VwGO-E – Beweisaufnahme per Bild- und Tonübertragung
Der Entwurf sieht vor, dass auch eine Beweisaufnahme grundsätzlich per Bild- und Tonübertragung durchgeführt werden kann. Die Beteiligten und die betroffenen Zeugen und Sachverständigen können dies beantragen. Das Gericht kann dies anordnen. Das Einspruchsrecht gegen die Anordnung steht nur den zu vernehmenden Parteien und Zeugen zu. Eine Intention des richterlichen Ermessens bei übereinstimmendem Wunsch der Beteiligten, die Beweisaufnahme per Bild- und Tonübertragung durchzuführen, ist nicht mehr vorgesehen.
Die Regelung ist gemessen an dem mit dem Entwurf verfolgten Ziel konsequent. Zu begrüßen ist, dass kein intendiertes Ermessen bei übereinstimmendem Wunsch der Beteiligten, die Beweisaufnahme per Bild- und Tonübertragung durchzuführen, mehr vorgesehen ist. In Beweisaufnahmen kommt es auf persönliche Eindrücke, Nachfragen und Interaktionen an, die über Videotechnik selbst im Falle ihres reibungslosen Funktionierens nicht in gleicher Weise gewährleistet werden können und deren Einsatz dabei daher nur in geeigneten Fällen sinnvoll und gerechtfertigt erscheint, zumal die damit verbundene zusätzliche Belastung und Herausforderung, insbesondere etwa auch für die Zeugen, nicht verkannt werden darf.
Nicht nachvollziehbar ist insoweit, weshalb nur den zu vernehmenden Parteien und Zeugen ein Einspruch gegen die Anordnung einer Beweisaufnahme per Bild- und Tonübertragung zustehen soll. Ein eventueller minderer Beweiswert einer Beweisaufnahme per Bild- und Tonübertragung betrifft alle Beteiligten. Der Entwurf sollte daher auf eine Begrenzung des Einspruchsrechts bei Anordnung einer Beweisaufnahme durch Bild- und Tonübertragung verzichten.

Art. 11 Nr. 3 und 4 – § 87 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 VwGO-E und § 87c Abs. 2 Satz 3 VwGO-E – Erörterung des Sach- und Streitstandes in einer Videoverhandlung und Art. 11 Nr. 7 – entsprechende Anwendung von § 128a ZPO im Verwaltungsprozess
Art. 11 Nr. 7 des Gesetzentwurfs regelt die Durchführung von Videoverhandlungen durch Verweisung auf die entsprechende Vorschrift in der Zivilprozessordnung – § 128a ZPO-E – unter Aufhebung des bisher geltenden § 102a VwGO neu. Gemäß § 128a Abs. 2 Satz 1 ZPO-E kann der Vorsitzende auf Antrag oder von Amts wegen die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung per Bild- und Tonübertragung für einen, mehrere oder sämtliche Verfahrensbeteiligte anordnen. Wenn die Parteien ihre Teilnahme per Bild- und Tonübertragung übereinstimmend beantragen, soll diese nach § 128a Abs. 2 Satz 2 ZPO-E angeordnet werden. Gemäß § 128a Abs. 2 Satz 3 ZPO-E ist die Ablehnung eines Antrags auf Teilnahme an der mündlichen Verhandlung zu begründen. Art. 11 Nr. 3 und 4 des Gesetzentwurfs sieht zudem vor, dass § 128a ZPO-E auch für Erörterungstermine entsprechend Geltung beanspruchen soll.
Die Annahme, eine übereinstimmende Antragstellung sei ein starkes Indiz dafür, dass sich ein Verfahren für eine Videoverhandlung eignet, trifft nicht zu. Es ist Aufgabe des Gerichts, den gesamten Streitstoff zu erfassen und zu würdigen und nach der Vorstellung des Gesetzesgebers aufgrund möglichst nur einer mündlichen Verhandlung eine den Rechtsstreit beendenden Entscheidung zu treffen (§ 101 Abs. 1, § 87 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der bestmöglichen Erreichung dieses Ziels muss sich die Entscheidung darüber, ob eine Videoverhandlung angeordnet wird, unterordnen. Nur dort, soweit sie hilft, dieses Ziel zu erreichen, sollte sie von Gerichts wegen eingesetzt werden. Während dem Gericht die Prozessleitung obliegt, vertreten die Beteiligten allein ihre Interessen, die bei der Beantragung einer Videoverhandlung oftmals insbesondere durch die angestrebte Zeitersparnis aufgrund der wegfallenden An- und Abreise geprägt sind. Eine darüber hinausgehende umfassende Abwägung, ob das Verfahren aufgrund der Charakteristik des Streits oder der Beteiligten eine Präsenzverhandlung erfordert, obliegt den Beteiligten nicht. Daher muss die Beurteilung, ob eine Videoverhandlung eine Präsenzverhandlung in dem konkreten Fall ohne Erkenntnisverlust ersetzen kann, einschränkungslos dem über den Rechtsstreit entscheidenden Gericht vorbehalten sein. Auch im Übrigen obliegen Entscheidungen über die Prozessleitung allein dem Gericht. So können sich etwa die Beteiligten übereinstimmend mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter oder ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklären. Hält das Gericht dennoch eine Entscheidung in Kammerbesetzung oder die Durchführung einer mündlichen Verhandlung für erforderlich, kann es nach freiem Ermessen von den Erklärungen der Beteiligten abweichen.
Den Beteiligten wird zudem, obgleich diese, wie dargestellt, nicht in der Lage sein müssen, aufgrund der mündlichen Verhandlung eine Entscheidung zu treffen, ein deutlich weitreichenderer Spielraum als dem Gericht bei der Frage eingeräumt, ob sie an der mündlichen Verhandlung in Form einer Videoverhandlung teilnehmen möchten. Jeder von Ihnen kann eine gerichtliche Anordnung zur Durchführung einer Videoverhandlung mit Wirkung für alle Beteiligten jederzeit und ohne dies weiter begründen zu müssen durch einen Einspruch nach § 128a Abs. 5 ZPO-E zu Fall bringen. Anders als das Gericht kann der Beteiligte mithin voraussetzungslos eine mündliche Verhandlung in Präsenz verlangen. Angesichts der hohen Bedeutung der mündlichen Verhandlung im gerichtlichen Verfahren wurde insoweit richtigerweise auf die Möglichkeit einer – etwa bei Vorliegen der technischen Voraussetzungen – zwingenden Anordnung verzichtet. Dagegen nicht nachvollziehbar sind die deutlich höheren Hürden, die das Gericht nehmen muss, will es die mündliche Verhandlung jedenfalls teilweise in Präsenz durchführen.
Das Erfordernis, die Ablehnung eines Antrages auf Durchführung einer Videoverhandlung zu begründen, lässt zudem erheblichen Mehraufwand für die Gerichte besorgen. Eine Verlängerung der Verfahrenslaufzeiten bei den Verwaltungsgerichten ist unweigerlich die Folge. Statt mit der materiellen Bearbeitung der Verfahren wird sich das Gericht zukünftig unter Umständen auch kurz vor der mündlichen Verhandlung entweder mit der Abfassung von Ent-scheidungen über Anträge auf Teilnahme an der mündlichen Verhandlung per Bild- und Tonübertragung oder der Organisation zur Bereitstellung der Videokonferenztechnik zu beschäftigen haben, die insbesondere für Hybridverhandlungen nicht flächendeckend in jedem Sitzungssaal zur Verfügung steht. Besonders bedenklich ist insoweit, dass für die Antragstellung der Beteiligten für eine Videoverhandlung keine gesetzliche Ausschlussfrist und auch – anders als bei der gerichtlichen Anordnung für den Widerspruch eines Beteiligten gegen eine Videoverhandlung – keine richterliche Fristsetzung mit Ausschlusswirkung vorgesehen ist. Die förmliche Antragstellung kann daher auch wenige Tage vor dem Termin der mündlichen Verhandlung erfolgen, sodass das Gericht gegebenenfalls unter erheblichem Zeitdruck, will es den Antrag ablehnen, einen Beschluss fertigen muss.
Nicht konsistent ist der Gesetzentwurf im Hinblick auf die für die Sozialgerichtsbarkeit vorgesehenen Regelungen zur Durchführung von Videoverhandlungen. Nach Art. 10 Nr. 4 – § 110a SGG-E – steht es – auch bei übereinstimmenden Anträgen aller Verfahrensbeteiligten – im Ermessen des Gerichts, ob es eine Videoverhandlung durchführt. Eine weitergehende Bindung des gerichtlichen Ermessens findet nicht statt. Ein sachlicher Grund für diese – im Verhältnis zur verwaltungsgerichtlichen Prozess unterschiedliche – Regelung ist nicht ersichtlich.
Schließlich ist ein intendiertes Ermessen auch bei der Durchführung von Erörterungsterminen nicht sachgerecht. Auch bei Durchführung dieser Termine kann das Gericht seiner Funktion nur gerecht werden, wenn die Entscheidung über die Form der Verhandlung in seinem freien Ermessen liegt. Insoweit ist außerdem zu bedenken, dass das Gericht bei Durchführung von Erörterungsterminen als Videoverhandlung die Einhaltung des dort geltenden Ausschlusses der Öffentlichkeit nicht sicherstellen kann.

Berlin, den 16. Oktober 2023

Dr. Robert Seegmüller
(Vorsitzender)