Stellungnahme zu dem Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz für ein Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten
Der Bund Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen e. V. (BDVR) bedankt sich für die Gelegenheit, zu dem Referentenentwurf Stellung zu nehmen.
Der BDVR begrüßt grundsätzlich den Ansatz, den Einsatz von Videokonferenztechnik weiter zu fördern. Dies entspricht der bereits im September 2021 aufgestellten rechtspolitischen Forderung des BDVR, in der für eine breite Akzeptanz von Videoverhandlungen die Zurverfügungstellung einer Videoverhandlungslösung etwa in Form einer gemeinsamen Videoverhandlungsplattform eingetreten wurde, die für alle Beteiligten eine zuverlässige und praktische Handhabung gewährleistet. Dieser Ansatz wurde bedauerlicherweise nicht aufgegriffen. Die stattdessen vorgeschlagenen Neuregelungen, insbesondere Art. 3 Nr. 5, Nr. 6, Nr. 13, Art. 8 Nr. 1, 3, 6 und Art. 14 des Gesetzesentwurfes zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten, stoßen dagegen auf erhebliche Bedenken. Vor Einführung derart weitreichender Änderungen erscheint aus Sicht der Praxis eine Evaluierung der schon bestehenden und auch nach den Ausführungen im Referentenentwurf bereits verstärkt genutzten gesetzlichen Möglichkeiten zum Einsatz von Videokonferenztechnik geboten, insbesondere soweit diese bei einer Ausweitung der personellen und sachlichen Kapazitäten sowie der Bereitstellung einer verlässlichen Videoverhandlungs-plattform die beabsichtigte erweiterte Nutzung und Förderung der Videokonferenztechnik be-reits ermöglichen. Im Einzelnen:
I. Art. 3 Nr. 5 und Art. 8 Nr. 6 Ref-E
Durch Art. 8 Nr. 6 Ref-E wird § 102a VwGO aufgehoben. Der durch Art. 3 Nr. 5 Ref-E neugefasste § 128a ZPO-E regelt die prozessualen Grundlagen zur Durchführung von Videoverhandlungen neu. Diese Vorschrift soll über die Verweisungsnorm des § 173 Satz 1 VwGO für das verwaltungsgerichtliche Verfahren Anwendung finden.
Die Regelungen unterliegen im Hinblick auf die den Beteiligten in Bezug auf die Anberaumung einer Videoverhandlung eingeräumten weitreichenden Einflussmöglichkeiten durchgreifenden Bedenken (1.). Dadurch sind Streitigkeiten innerhalb eines Verfahrens über die Durchführung der mündlichen Verhandlung zu befürchten, die sich negativ auf die Verfahrenslaufzeiten auswirken und die Kernaufgabe der Gerichte, die Gewährung effektiven Rechtsschutzes, erschweren werden (2.). Die unter A.II.6. der Begründung des Referentenentwurfs für die Sozialgerichtsbarkeit angeführten Erwägungen, die von dem Vorstehenden abweichende Regelungen befürworten, beanspruchen in gleicher Weise Geltung für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (3.). Die Realisierung der von dem Referentenentwurf vorgeschlagenen Änderungen stellt die Verwaltungsgerichtsbarkeit aufgrund der bestehenden personellen und sachlichen Ausstattungssituation vor erhebliche Herausforderungen (4.).
1. Gemäß § 128a Abs. 2 Satz 1 ZPO-E kann der Vorsitzende auf Antrag oder von Amts wegen die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung per Bild- und Tonübertragung für einen, mehrere oder sämtliche Verfahrensbeteiligte anordnen. Wenn die Parteien ihre Teilnahme per Bild- und Tonübertragung übereinstimmend beantragen, soll diese nach § 128a Abs. 2 Satz 2 ZPO-E angeordnet werden. Gemäß § 128a Abs. 2 Satz 3 ZPO-E entscheidet das Gericht über die Ablehnung eines Antrags durch Beschluss. Nach § 128 Abs. 2 Satz 4 ZPO-E ist der Beschluss zu begründen. Gemäß § 128a Abs. 7 Satz 1 ZPO-E findet gegen den Beschluss die sofortige Beschwerde statt. § 128a Abs. 2 Satz 2 ZPO-E verpflichtet die Gerichte, bei übereinstimmenden Anträgen der Beteiligten in der Regel eine mündliche Verhandlung per Bild- und Tonübertragung vorzusehen; die Ablehnung der Anträge soll nur in Ausnahmefällen möglich sein.
Die Annahme, eine übereinstimmende Antragstellung sei ein starkes Indiz für die Geeignetheit des Verfahrens für eine Videoverhandlung, geht an der Praxis vorbei. Denn, wie in der Begründung des Referentenentwurfs unter Nennung einiger Beispiele selbst angeführt wird, können die Gründe für die Ablehnung einer Videoverhandlung vielschichtig und maßgeblich von den Besonderheiten des Einzelfalls geprägt sein. Angesichts der Vielgestaltigkeit der Verfahrenssituationen, die unabhängig davon vorliegt, ob nur ein Antrag oder übereinstimmende Anträge auf die Durchführung einer Videoverhandlung gestellt werden, geht die Anordnung eines intendierten Ermessens der Gerichte fehl. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass nicht die Beteiligten, sondern das Gericht in der Verantwortung steht, den gesamten Streitstoff zu erfassen und zu würdigen und nach der Vorstellung des Gesetzesgebers aufgrund möglichst nur einer mündlichen Verhandlung eine den Rechtsstreit beendenden Entscheidung zu treffen (§ 101 Abs. 1, § 87 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Während dem Gericht die Prozessleitung obliegt, vertreten die Beteiligten allein ihre Interessen, die bei der Beantragung einer Videoverhandlung oftmals insbesondere durch die erstrebte Zeitersparnis aufgrund der wegfallen-den An- und Abreise geprägt sind. Eine darüberhinausgehende umfassende Abwägung, ob das Verfahren aufgrund der Charakteristik des Streits oder der Beteiligten eine Präsenzverhandlung erfordert, obliegt den Beteiligten nicht und kann mithin auch nicht ohne weiteres, wie in dem Referentenentwurf unterstellt, von diesen erwartet werden. Daher muss die Beurteilung, ob eine Videoverhandlung eine Präsenzverhandlung in dem konkreten Fall ohne Erkenntnisverlust ersetzen kann, einschränkungslos dem über den Rechtsstreit entscheidenden Gericht vorbehalten sein. Auch im Übrigen obliegen Entscheidungen über die Prozessleitung allein dem Gericht. So können sich etwa die Beteiligten übereinstimmend mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter oder ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklären. Hält das Gericht dennoch eine Entscheidung in Kammerbesetzung oder die Durchführung einer mündlichen Verhandlung für erforderlich, kann es nach freiem Ermessen von den Erklärungen der Beteiligten abweichen.
Den Beteiligten wird zudem, obgleich diese, wie dargestellt, nicht in der Lage sein müssen, aufgrund der mündlichen Verhandlung eine Entscheidung zu treffen, ein deutlich weitreichenderer Spielraum als dem Gericht bei der Frage eingeräumt, ob sie an der mündlichen Verhandlung in Form einer Videoverhandlung teilnehmen möchten. Die Beteiligten sollen nach § 128a Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 ZPO-E nach einer Anordnung des Vorsitzenden zur Teilnahme an der mündlichen Verhandlung per Bild- und Tonübertragung innerhalb einer vom Vorsitzenden gesetzten Frist beantragen können, von der Anordnung ausgenommen zu werden. Der Widerspruch gegen die Teilnahme an der Videoverhandlung muss nicht begründet werden. Anders als das Gericht kann der Beteiligte mithin voraussetzungslos eine mündliche Verhandlung in Präsenz verlangen. Angesichts der hohen Bedeutung der mündlichen Verhandlung im gerichtlichen Verfahren wurde insoweit richtigerweise auf die Möglichkeit einer – etwa bei Vorliegen der technischen Voraussetzungen – zwingenden Anordnung verzichtet. Dagegen nicht nachvollziehbar sind die deutlich höheren Hürden, die das Gericht nehmen muss, will es die mündliche Verhandlung jedenfalls teilweise in Präsenz durchführen.
2. a) Das Erfordernis, bei Ablehnung eines – ggf. auch nur von einem Beteiligten gestellten – Antrages einen nach dem Referentenentwurf mit nicht unerheblichem Aufwand zu begründenden Beschluss, der überdies beschwerdefähig sein soll, zu fassen, lässt zudem erheblichen Mehraufwand für die Gerichte besorgen, der zudem unweigerlich eine Verlängerung der Verfahrenslaufzeiten zur Folge haben wird. Statt mit der materiellen Bearbeitung der Verfahren wird sich das Gericht zukünftig unter Umständen auch kurz vor der mündlichen Verhandlung entweder mit der Abfassung von Beschlüssen zur Ablehnung von Anträgen auf Teilnahme an der mündlichen Verhandlung per Bild- und Tonübertragung oder der Organisation zur Bereitstellung der Videokonferenztechnik zu beschäftigen haben, die insbesondere für Hybridverhandlungen nicht flächendeckend in jedem Sitzungssaal zur Verfügung steht. Besonders bedenklich ist insoweit, dass für die Antragstellung der Beteiligten für eine Videoverhandlung keine gesetzliche Ausschlussfrist und auch – anders als bei der gerichtlichen Anordnung für den Widerspruch eines Beteiligten gegen eine Videoverhandlung – keine richterliche Fristsetzung mit Ausschlusswirkung vorgesehen ist. Nach dem Referentenentwurf sollen die Beteiligten nach § 253 Abs. 3 Nr. 4, § 277 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 ZPO-E mit Klageerhebung bzw. Klageerwiderung lediglich mitteilen, ob gegen die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als Videoverhandlung Bedenken bestehen. Die förmliche Antragstellung kann dagegen auch wenige Tage vor dem Termin der mündlichen Verhandlung erfolgen, sodass das Gericht gegebenenfalls unter erheblichem Zeitdruck, will es den Antrag ablehnen, einen Beschluss fertigen muss und auch das Obergericht mit einem Anstieg eiliger „Nebenverfahren“ zusätzlich belastet wird. Auch für den Fall, dass dem Antrag entsprochen werden soll, entsteht für das Gericht ein nicht unerheblicher Zeitdruck, da die Entscheidung ebenfalls so frühzeitig vor dem Termin ergehen muss, dass eine Videoverhandlung technisch noch eingerichtet werden kann. Zudem besteht bei kurzfristiger Antragstellung das reale Risiko, dass der Termin aufgehoben werden muss, weil etwa die Einrichtung der Videokonferenztechnik mangels hinreichender personeller und technischer Ausstattung des Gerichts kurzfristig nicht leistbar oder bei Ablehnung des Antrags eine Entscheidung des Obergerichts über die hiergegen erhobene Beschwerde vor dem anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung nicht mehr ergeht. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, wie zu verfahren ist, wenn die Beteiligten gegen die Zurückweisung der Beschwerde durch das Obergericht weitere außerordentliche Rechtsbehelfe in Form der Anhörungsrüge und/oder Verfassungsbeschwerde erheben, über die zum Termin der mündlichen Verhandlung noch nicht befunden worden ist. Die mangelnde Fristbindung der Antragstellung und die Beschwerdemöglichkeit bergen damit erhebliches Missbrauchs- und Verzögerungspotential. Diesen Problemstellungen könnte durch eine den Beteiligten vom Gericht verbindlich gesetzte Frist zur Beantragung einer Videoverhandlung und durch die Anordnung der Unanfechtbarkeit ablehnender Beschlüsse begegnet werden. Hierdurch würde auch für die Beteiligten frühzeitig Klarheit über die Form der mündlichen Verhandlung geschaffen werden.
b) Wie vorstehend dargestellt, stößt die in § 128a Abs. 7 ZPO-E eingeräumte Beschwerdemöglichkeit auf durchgreifende Bedenken. Denn diese führt zu der bereits ausgeführten weiteren erheblichen Belastung der Instanz, die über die Beschwerden unter Umständen innerhalb kurzer Zeit befinden muss. Dies wird sich zwangsläufig auch bei diesen negativ auf die Verfahrenslaufzeiten auswirken, da dort anhängige Verfahren so lange nicht gefördert werden können, wie über die Frage, in welcher Form das Vordergericht seine mündliche Verhandlung abzuhalten hat, zu entscheiden ist. Die Beschwerdemöglichkeit führt damit zudem zu der äußerst befremdlichen Situation, dass Dritte – die Beteiligten und das Obergericht – denen nicht die Verantwortung obliegt, über den Streitgegenstand zu entscheiden, darüber befinden können, in welcher Form die mündliche Verhandlung, aufgrund derer die Entscheidung getroffen werden soll, stattzufinden hat. Zugespitzt wäre damit die Situation denkbar, dass sich das Gericht nicht in der Lage sieht, über das Verfahren im Rahmen einer Videoverhandlung zu entscheiden, weil es, um die erforderliche Überzeugungsgewissheit zu gewinnen, als unverzichtbar erachtet, sich einen persönlichen Eindruck von einem Beteiligten im Gerichtssaal zu verschaffen, dies jedoch von den Beteiligten und gegebenenfalls des über eine Beschwerde entscheidenden Obergerichts anders beurteilt wird. Die Beschwerdemöglichkeit stellt sich zudem als systemfremd dar, da prozessleitende Verfügungen und Beschlüsse, um die es sich bei der Ablehnung eines Antrags auf Durchführung einer Videoverhandlung handelt, nach § 146 Abs. 2 VwGO unanfechtbar sind. Eine sachliche Rechtfertigung, Beschlüsse, die Anträge auf Videoverhandlungen ablehnen, anders zu behandeln, ist nach dem Vorstehenden nicht ersichtlich.
3. Nicht konsistent ist die Förderung der Videokonferenztechnik in der Verwaltungsgerichtsbarkeit zudem im Vergleich zu den für die Sozialgerichtsbarkeit vorgesehenen Regelungen. Für die Sozialgerichtsbarkeit verbleibt es nach Art. 7 Ref-E dabei, dass das Gericht auf Antrag oder von Amts wegen die Teilnahme per Bild- und Tonübertragung für einen, mehrere oder sämtliche Verfahrensbeteiligte gestatten kann. Die Ablehnung eines Antrags, die stets im freien Ermessen des Gerichts steht, ist zu begründen. Der Beschluss ist unanfechtbar. Begründet werden diese Regelungen unter anderem mit der hohen Bedeutung der mündlichen Verhandlung und dem Autoritätsverlust des Gerichts im Falle einer Videoverhandlung. Insbesondere bedürfe es der Anwesenheit des Spruchkörpers im Gerichtssaal um feine Nuancen und Zwischentöne wahrnehmen sowie jederzeit reagieren und interagieren zu können und über die Erkenntnisse und Eindrücke aus der mündlichen Verhandlung gemeinsam vor Ort zu beraten. Befremdlich mutet an, dass dies nur für die Sozialgerichtsbarkeit Geltung beanspruchen soll. Auch in der Verwaltungsgerichtsbarkeit sind die mündlichen Verhandlungen von besonderer Bedeutung und die verhandelten Sachverhalte für die Beteiligten nicht selten von existentieller Bedeutung (z. B. im Asylrecht, Ausländerrecht, Kinder- und Jugendhilferecht, Beamtenrecht sowie in dem beim Verwaltungsgericht angesiedelten Sozialrecht). Die Wahrnehmung von Nuancen und Zwischentönen in der mündlichen Verhandlung ist in zahlreichen Verfahren von Bedeutung, unabhängig davon in welcher Besetzung die Entscheidung ergeht. Überdies ist aber auch in der Verwaltungsgerichtsbarkeit als gesetzlicher Regelfall eine Entscheidung unter Hinzuziehung von ehrenamtlichen Richtern vorgesehen. Vor diesem Hintergrund beanspruchen die für die Sozialgerichtsbarkeit zutreffend getroffenen Erwägungen Geltung gleichfalls für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
4. Aktuell dürfte maßgeblich die personelle und sachliche Ausstattungssituation der Ausweitung der Nutzung der Videokonferenztechnik und damit perspektivisch auch der Umsetzung der beabsichtigten Regelungen entgegenstehen. Dies gilt insbesondere da angesichts des im Referentenentwurf veranschlagten Erfüllungsaufwands eine entsprechende technische Vollausstattung aller Sitzungssäle mit fest verbauten Konferenzsystemen, die für eine annähernd störungsfreie Umsetzung der Neuregelungen zwingend wäre, nicht angedacht zu sein scheint. Die Ausstattungssituation lässt sich exemplarisch an der Situation in Nordrhein-Westfalen darstellen: Die genutzte VMR-Videokonferenzsoftware join.video.nrw.de ist für die Teilnahme von bis zu 50 Personen ausgelegt, nach den praktischen Erfahrungen treten aber Störungen bereits ab 15 Teilnehmern auf – eine Zahl, die bei virtueller Teilnahme aller Beteiligter nebst deren Prozessbevollmächtigten, etwaiger Zeugen, Sachverständiger und auch des Spruchkörpers schnell überschritten wird. Unabhängig von etwaigen Performance-Problemen ist bei einem derart großen Teilnehmerkreis die Übersichtlichkeit in keiner der zur Verfügung stehenden Darstellungsoptionen gewährleistet. So können bei einem Gebrauchmachen von § 128a Abs. 4 Satz 1 ZPO-E nicht alle fünf Richter nebeneinander angezeigt werden, weil die konkrete Darstellung weder in der Kachel- noch in der Sprecheransicht steuerbar ist. Für die Beteiligten und die Öffentlichkeit wird die Wahrnehmung der Besetzung des Spruchkörpers und die Erfassung des Gerichts als Funktionseinheit hierdurch massiv erschwert, wodurch die Autorität der Gerichte leidet und die mündliche Verhandlung entwertet wird. Die Anzahl der über die Konferenzsoftware buchbaren Online-Räume zur Durchführung von Videoverhandlungen (aktuell zwei VMR für die Verwaltungsgerichtsbarkeit) wird bei dem durch die beabsichtigten Änderungen zu erwartenden Anstieg an Videoverhandlungen nicht ausreichen. Die Konferenztechnik des Landes NRW ermöglicht keine Bild-/Ton-Aufzeichnung, so dass die Neuregelungen des § 160a ZPO-E derzeit technisch nicht umsetzbar sind. Technische Möglichkeiten, die nach § 128a Abs. 6 Satz 3 ZPO-E unbefugte Aufzeichnung durch Verfahrensbeteiligte zu erkennen und zu unterbinden, bestehen nicht. Die Entfernung entsprechender Aufzeichnungen, die einmal auf Videoportalen wie youtube veröffentlicht worden sind, ist mit erheblichem Aufwand für die Gerichtsverwaltung verbunden. Die Konferenztechnik sieht ferner keine Möglichkeit für virtuelle Beratungszimmer, etwa in Gestalt sog. Breakout Rooms, vor. Das bedeutet, dass sich das Gericht im Rahmen einer Kammersitzung selbst für kurze Zwischenberatungen aus der laufenden Konferenz ausloggen und einen vorher zu buchenden anderen VMR betreten muss, was nicht praktikabel erscheint.
Die Systemperformance bei den Verwaltungsgerichten dürfte nach den bisherigen Erfahrungen bei mehreren zeitgleich durchgeführten Videoverhandlungen sehr schnell an ihre Grenzen stoßen, insbesondere, wenn aufgrund einer Vielzahl einzeln zugeschalteter Teilnehmer die Datenmengen der einzelnen Sitzungen massiv ansteigen. Dies wiederum hat zur Folge, dass Verhandlungen letztlich vertagt und als Präsenzveranstaltungen wiederholt werden müssen. Auch dies führt zu einer Verfahrensverlängerung.
II. Art. 3 Nr. 6, Art. 8 Nr. 1 Ref-E
Mit Art. 3 Nr. 6 und Art. 8 Nr. 1 des Referentenentwurfs soll durch eine Änderung des § 129a Abs. 2 ZPO-E, der nach § 81 Abs. 1 VwGO-E für die Verwaltungsgerichtsbarkeit entsprechend gelten soll, die Möglichkeit eröffnet werden, Anträge virtuell bei der Rechtsantragstelle zu stellen. Die beabsichtigte Regelung wirft zahlreiche Fragen auf. So bleibt etwa unklar, welche technische Ausstattung hierzu zur Verfügung gestellt und wie die zur Formwahrung erforderli-che Unterschrift geleistet werden soll. Offen bleibt, wie Schwierigkeiten bei der Feststellung der Identität der antragstellenden Person begegnet werden soll. Die Regelung vernachlässigt, dass das Fehlen des unmittelbaren persönlichen Kontakts zwischen Rechtsschutzsuchenden und Rechtspfleger das Erfassen des Begehrens nicht selten erschweren wird. Fraglich ist zudem, wie mit Fristversäumungen umzugehen ist, wenn diese darauf beruhen, dass entweder die Aufnahme von Anträgen und Erklärungen über die Videokonferenztechnik aus technischen Gründen nicht möglich war oder der Rechtspfleger im Rahmen seines ihm im Gesetzesentwurf eingeräumten Ermessens auf eine persönliche Vorsprache der Kläger besteht und dadurch Fristüberschreitungen eintreten. Die üblicherweise mit Klageerhebung eingereichten Anlagen würden bei einer virtuellen Antragstellung zudem erst verzögert zum Verfahren gelangen und eine frühzeitige Förderung des Verfahrens – etwa durch richterliche Hinweise in der Eingangsverfügung – erschweren.
III. Art. 3 Nr. 13 Ref-E
Mit Art. 3 Nr. 13 Ref-E soll § 227 Abs. 1 ZPO dahingehend geändert werden, dass von einer Terminänderung abgesehen werden soll, wenn der Termin als Videoverhandlung nach § 128a ZPO-E oder als Beweisaufnahme nach § 284 Abs. 2 ZPO-E durchgeführt werden kann und die erheblichen Gründe, die zu einer Aufhebung, Verlegung des Termins oder Vertagung der Verhandlung führen können, dadurch entfallen. Die Soll-Regelung des § 227 Abs. 1 Satz 3 ZPO-E trägt den Belangen der Praxis nicht ausreichend Rechnung. Nach dem Gesetzeswortlaut soll die Videoverhandlung als Regelfall schon dann stattfinden, wenn dadurch der Ver-hinderungsgrund eines Beteiligten entfällt. Unklar bleibt, ob sich das Verfahren nach der Norm auch für eine Videoverhandlung eignen muss. Es erscheint aus den bereits dargelegten Gründen geboten, die Entscheidung, ob der Termin als Videoverhandlung durchgeführt werden soll, in das freie Ermessen des Gerichts zu stellen.
IV. Art. 8 Nr. 3 Ref-E
Art. 8 Nr. 3 Ref-E sieht eine Änderung des § 87 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 VwGO vor, der zufolge § 128a ZPO-E auch für Erörterungstermine entsprechend Geltung beanspruchen soll. Die bereits dargestellten Bedenken gegen die Regelungen des § 128a ZPO-E gelten gleichermaßen für einen Erörterungstermin, der in der Regel zur Herbeiführung einer gütlichen Einigung der Beteiligten dient. Der Referentenentwurf führt selbst schwierige Vergleichsverhandlungen als einen Fall an, in dem sich regelmäßig die Durchführung einer Präsenzverhandlung anbietet. Dass dennoch für Erörterungstermine bei übereinstimmenden Anträgen das Ermessen des Gerichts intendiert sein soll, ist mithin nicht sachgerecht. Vielmehr kann das Gericht ebenso wie der anberaumte Erörterungstermin seiner Funktion nur gerecht werden, wenn die Entscheidung über die Form der Verhandlung im freien Ermessen des Gerichts liegt und nicht angreifbar ist. Überdies bestehen in praktischer Hinsicht Bedenken, da das Gericht insoweit keine Einflussmöglichkeit auf die Beteiligten hat und die Einhaltung des Ausschlusses der Öffentlichkeit im Rahmen eines Erörterungstermins als Videoverhandlung nicht sicherstellen kann.
V. Art. 14 Ref-E
Nach Art. 14 Ref-E soll das Gesetz mit Ausnahme von Art. 3 Nr. 6 Ref-E am Tag nach der Verkündung in Kraft treten. Dies dürfte angesichts der beabsichtigten weitreichenden Änderungen zu erheblichen praktischen Schwierigkeiten führen. Zu Bedenken ist etwa, dass mündliche Verhandlungen bereits terminiert sind und unter Umständen kurz bevorstehen. Nach Inkrafttreten des Gesetzes können in diesen Verfahren Anträge der Beteiligten auf Durchführung einer Videoverhandlung gestellt werden, die das Gericht, wie bereits dargestellt, unter erheblichen Zeitdruck setzen und zu Mehraufwand führen, die letztlich zu Lasten der materiellen Bearbeitung der Verfahren gehen. Widrigenfalls können entsprechende Anträge gar eine Aufhebung der unter Umständen bereits weit im Voraus terminierten Verhandlung veranlassen. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Übergangsfrist von mindestens sechs Monaten, wie es für § 129a ZPO-E nach Art. 14 Abs. 2 Ref-E vorgesehen ist, notwendig.
Berlin, den 16. Januar 2023
Dr. Robert Seegmüller
(Vorsitzender)