Verfahren 1 BvR 1623/17 – mehr als dreijährige Abordnung von Richtern zu Zwecken der Erprobung verfassungsrechtlich bedenklich
Der Bund Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen bedankt sich für die Gelegenheit, in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren – 1 BvR 1623/17 – Stellung zu nehmen.
Das Grundgesetz geht davon aus, dass die Gerichte grundsätzlich mit hauptamtlich und planmäßig auf Lebenszeit endgültig angestellten Richtern besetzt sind. Einen zwingenden Grund für eine Ausnahme stellt die Abordnung von Richterinnen und Richtern an ein Obergericht zu Zwecken der Erprobung dar, wobei sich die Abordnungsdauer auf das zwingend gebotene Maß beschränken muss. Eine Erprobungsabordnung über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren erscheint daher kaum mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG i.V.m. Art. 97 Abs. 2 Satz 1 GG vereinbar.
Richter auf Lebenszeit können mit ihrer Zustimmung auf eine bestimmte Zeit an ein anderes Gericht abgeordnet werden (§ 37 Abs. 1 und 2 DRiG). Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Entscheidung eines Landessozialgerichts in einem Prozesskostenhilfeverfahren, an der ein zu Zwecken der Eignungserprobung abgeordneter Richter am Sozialgericht mitgewirkt hat. Sie macht geltend, der Abordnungszeitraum von bis zu drei Jahren habe die verfassungs-rechtlich zulässige Dauer überschritten.
Verfassungsrechtlicher Maßstab
Niemand darf gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Ein Gericht, das nicht in jeder Hinsicht den Anforderungen des Grundgesetzes entspricht, genügt nicht mehr dem Erfordernis eines gesetzlichen Richters (BVerfG, Beschluss vom 17. November 1959 – 1 BvR 88/56, 59/57, 212/59 – BVerfGE 10, 200 <213>; Beschluss vom 22. März 2018 – 2 BvR 780/16 – BVerfGE 148, 69 Rn. 47 f.).
Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen (Art. 97 Abs. 1 GG). Zur Sicherung der sachlichen Unabhängigkeit garantiert Art. 97 Abs. 2 Satz 1 GG den hauptamtlich und planmäßig angestellten Richtern die persönliche Unabhängigkeit (BVerfG, Beschluss vom 22. März 2018 – 2 BvR 780/16 – BVerfGE 148, 69 Rn. 64 m.w.N.). Sie können gegen ihren Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur aus Gründen und unter den Formen, welche die Gesetze bestimmen, vor Ablauf ihrer Amtszeit entlassen oder dauernd oder zeitweise ihres Amtes enthoben oder an eine andere Stelle oder in den Ruhestand versetzt werden. Art. 97 Abs. 2 GG liegt, ebenso wie Art. 92 GG, die Vorstellung von dem Regeltypus des hauptamtlich und planmäßig angestellten Lebenszeitrichters zugrunde, der unversetzbar und unabsetzbar ist. Daraus ergibt sich, dass die Verwendung von Richtern ohne die umfassende Garantie der persönlichen Unabhängigkeit die Ausnahme bleiben muss und einer Rechtfertigung bedarf (BVerfG, Urteil vom 3. Juli 1962 – 2 BvR 628/60, 247/61 – BVerfGE 14, 156 <162>). Der Schutz der persönlichen Unabhängigkeit erstreckt sich dabei auch auf Maßnahmen, die materiell einer dauernden oder zeitweisen Amtsenthebung oder Versetzung an eine andere Stelle gleichkommen (BVerfG, Beschluss vom 22. März 2018 – 2 BvR 780/16 – BVerfGE 148, 69 Rn. 65).
Ausnahmen von diesem Organisationsprinzip der Gerichtsverfassung und damit verbundene Einschränkungen der richterlichen Unabhängigkeit sind zulässig, bedürfen aber einer Rechtfertigung durch zwingende Gründe und müssen auf das zwingend gebotene Maß beschränkt bleiben (vgl. BVerfG, Urteil vom 3. Juli 1962 – 2 BvR 628/60, 247/61 – BVerfGE 14, 156 <164>). Dabei ist die Zahl der nicht vollständig persönlich unabhängigen Richter innerhalb der Gerichte und Gerichtszweige so gering wie möglich zu halten (BVerfG, Beschluss vom 22. März 2018 – 2 BvR 780/16 – BVerfGE 148, 69, Rn. 68). Als zwingender Grund für den Einsatz nicht planmäßig beim Obergericht angestellter Richter ist in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung die zeitlich begrenzte Abordnung planmäßiger Richter unterer Gerichte an obere Gerichte, um ihre Eignung zu erproben, anerkannt (BVerfG, Urteil vom 3. Juli 1962 – 2 BvR 628/60, 247/61 – BVerfGE 14, 156 <164>; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Juni 2006 – 2 BvR 957/05 – juris Rn. 7 m.w.N.).
Verfassungsrechtliche Bedenken
Die persönliche Unabhängigkeit eines zur Eignungserprobung von einem unteren Gericht abgeordneten Richters bleibt hinter derjenigen eines Richters auf Lebenszeit an einem Obergericht schon deshalb zurück, weil sich der abgeordnete Richter in einer Erprobung besonderen Herausforderungen stellen muss, um das angestrebte Beförderungsamt zu erreichen. Wenn er den Anforderungen nicht gerecht wird, nimmt er sein früheres Richteramt wieder wahr, was materiell einer Versetzung an das Ausgangsgericht gleichkommt.
Die zeitlich begrenzte Abordnung von Richtern zu Erprobungszwecken zählt zu den unum-gänglichen Bedürfnissen der Rechtspflege, die Einschränkungen der richterlichen Unabhän-gigkeit rechtfertigen können. Die Dauer einer solchen Erprobungsmaßnahme darf aber nicht beliebig ausgedehnt werden. Sie muss vielmehr schon deshalb auf das zwingend gebotene Maß beschränkt bleiben, weil die Zahl der nicht vollständig persönlich unabhängigen Richter allgemein so gering wie möglich zu halten ist (BVerfG, Beschluss vom 22. März 2018 – 2 BvR 780/16 – BVerfGE 148, 69, Rn. 68). Auch aus Sicht des betroffenen Richters erscheint eine Einschränkung seiner persönlichen Unabhängigkeit nur für den Zeitraum gerechtfertigt, der für die Erprobung und damit für die Beurteilung seiner Tätigkeit am Obergericht erforderlich ist.
Hinzu kommt, dass die Garantie der sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit auch das Ziel verfolgt, mittelbaren Einflussnahmen entgegenzuwirken und zu verhindern, dass die Rechtsuchenden einem Gericht mit Misstrauen begegnen, weil dessen Richter im Hinblick auf den Bestand ihres Richteramtes Abhängigkeiten unterworfen sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. März 2018 – 2 BvR 780/16 – BVerfGE 148, 69 Rn. 58 f., 64). Bestätigt wird dies auch aus europarechtlicher Sicht. Danach gebietet das Erfordernis der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit, dass die Regelungen betreffend die Abordnung von Richtern es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit des Spruchköpers für äußere Faktoren und an dessen Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (vgl. EuGH, Urteil vom 16. November 2021 – C 748/19 – juris Rn. 67 ff.; vgl. auch BVerfG, a.a.O. Rn. 75 m.w.N.).
Die persönliche Unabhängigkeit steht bei Erprobungen jedoch von vornherein in einem Spannungsverhältnis zu dem Umstand, dass sich der betroffene Richter zu bewähren hat, seine Beförderungschancen also vor allem von der Beurteilung seiner fachlichen Leistung im Rich-teramt abhängig sind. Bedenken gegen die Unparteilichkeit könnten bei Rechtsuchenden auf-kommen, wenn sich die Erprobungszeiträume über mehrere Jahre erstrecken und sich bei objektiver Betrachtungsweise kaum mehr Gründe für die lange Dauer finden lassen. Es bedarf daher einer effektiven Begrenzung in zeitlicher Hinsicht. Bei der Beurteilung, welche Zeiträume noch als zwingend geboten anzusehen sind, dürfte neben der Bedeutung der verfassungsrechtlichen Garantien vor allem auf den Zweck der Erprobungsabordnung abzustellen sein.
Zwar bedarf es bei Aufnahme einer richterlichen Tätigkeit an einem Obergericht regelmäßig einer gewissen Einarbeitungszeit, die dem betreffenden Richter einzuräumen ist und nach der seine Eignung erst beurteilt werden kann. Zeiträume, die mehrere Jahre umfassen, erscheinen jedoch problematisch. Zur Konkretisierung des Erforderlichkeitsmaßstabs kommt eine Orientierung an den gesetzlichen Regelungen für Richter kraft Auftrags in Betracht. Diese sind gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 DRiG spätestens zwei Jahre nach ihrer Ernennung zum Richter auf Lebenszeit zu ernennen. In den Gesetzesmaterialien wird zu dieser Regelung ausgeführt, dass die persönliche, innere Unabhängigkeit eines Richters beeinträchtigt werde, wenn er auf lange, vielleicht unbestimmte Zeit in einer noch nicht voll gesicherten Stellung tätig sei (vgl. Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 3/516, S. 37). Nichts Anderes dürfte für Richter auf Lebenszeit gelten, die zur Erprobung an ein Obergericht abgeordnet werden. Vor diesem Hintergrund dürfte jedenfalls ein mehr als zweijähriger Erprobungszeitraum nicht mehr erforderlich und daher verfassungsrechtlich unzulässig sein.
Eine überlange Abordnung von Richtern zu Erprobungszwecken kann auch nicht unter Beru-fung auf eine unzureichende Ausstattung des Gerichts mit Planstellen gerechtfertigt werden. Ein solch strukturbedingter Stellenmangel würde nicht mehr nur einen vorübergehenden personellen Engpass darstellen, der ein zwingender Grund für den Einsatz von nicht planmäßig beim Gericht angestellten Richtern sein kann (vgl. dazu BVerfG, Urteil vom 3. Juli 1962 – 2 BvR 628/60, 247/61 – BVerfGE 14, 156 <164>), sondern bestünde über mehrere Jahre hinweg. In diesem Fall wäre es jedoch Aufgabe des Haushaltsgesetzgebers, alle Maßnahmen zu treffen, die geeignet und nötig sind, einer Überlastung der Gerichte vorzubeugen und ihr dort, wo sie eintritt, rechtzeitig abzuhelfen. Die dafür erforderlichen – personellen wie sächlichen – Mittel hat der Staat aufzubringen, bereitzustellen und einzusetzen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Dezember 1973 – 2 BvR 558/73 – BVerfGE 36, 264 <275>). Eine mit Art. 97 Abs. 2 GG unvereinbare Planstellenausstattung könnte sich dabei konkret aus einer signifikanten Abweichung des Stellenplans von den errechneten Zahlen nach Maßgabe des Systems der Per-sonalbedarfsberechnung nach PEBB§Y-Fach ergeben. Nach Einschätzung des BDVR ent-spricht der auf dieser Grundlage von der zuständigen Landesjustizverwaltung ermittelte Bedarf der Untergrenze der notwendigen Personalausstattung der jeweiligen Gerichte. Diese Bedarfsberechnung ist daher grundsätzlich geeignet, dem Justizgewährleistungsanspruch angemessen Rechnung zu tragen.
Dr. Robert Seegmüller
(Vorsitzender)
Berlin, den 15. Juni 2022